Ambidextrie: eine Einführung
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Im Kontext von Dualen Organisationen spricht man immer öfters von Ambidextrie. Ein Begriff, der bereits seit 1976 verwendet wird, der aber erst seit der wachsenden Erkenntnis in den letzten Jahren, nämlich dass die Einführung agilen Arbeitens in funktionalen Aufbauorganisationen (=Hierarchien) problembehaftet ist, immer bekannter wird.
Hinter dem lateinischen Wort Ambidextrie (ambo „beide“ und dextera „rechte Hand“; in der Medizin spricht man von Beidhändigkeit, von wo der Begriff übernommen wurde) verbirgt sich die Idee, dass Mitarbeitende die Fähigkeit besitzen (sollen), erfolgreich in einem komplizierten, wie auch komplexen Arbeitsumfeld zu arbeiten und Resultate zu liefern. Sie sollen also problemlos zwischen diesen beiden Welten switchen können.
Der Satz «Exploitation verdrängt Exploration» umschreibt trefflich, warum die Einführung von agilem Arbeiten in Hierarchien so herausfordernd ist:
Exploitation umschreibt alle Tätigkeiten einer Organisation bezüglich Verbesserung von Bestehendem durch Kostenoptimierung und Effizienzsteigerung. Bei der Exploration geht es um die Erschliessung neuer Geschäftsmodelle, und da die Entwicklung von innovativen Produkten & Services risikobehaftet ist, steht die Exploitation in Hierarchien stets über der Exploration: das Tagesgeschäft gewinnt immer! Dass dies zu einem grossen Problem werden kann, wenn eine Firma sich digital transformieren möchte, liegt auf der Hand. Denn erfolgreich innovative, digitale Produkte & Services entwickeln zu können, ist nur möglich, wenn man agil handelt und denkt. Und dies wiederum ist nur in einer Netzwerkorganisation machbar. Eine Kollision zwischen diesen beiden Denk- und Arbeitswelten ist daher vorprogrammiert! Wie kann man dieses Problem nun lösen? Indem man Mitarbeitende dazu befähigt, ambidextrisch zu denken und zu handeln, d.h. zwischen den beiden Betriebssystemen einer Dualen Organisation (1. Betriebssystem = Hierarchie, 2. Betriebssystem= agile Netzwerkstruktur) switchen zu können. Was heisst das nun im Detail?
Stellen Sie sich vor, Sie werden als Linienmitarbeiter für die Teilnahme an einem Digitalisierungsprojekt angefragt. Das Thema interessiert Sie, daher partizipieren Sie. Dafür sollen Sie aber über die nächsten 9 Monate 20% Ihrer Arbeitszeit zur Verfügung stellen. Das ist glücklicherweise möglich und Sie haben die volle Unterstützung Ihres Vorgesetzten und Ihrer KollegInnen, welche ihre Aufgaben, die Sie mit ihrem reduzierten Pensum nicht mehr abarbeiten können, übernehmen werden. Das Projekt beginnt und da Sie – wie viele ihrer neuen Teammitglieder – mit der agilen Denk- und Arbeitsweise nicht im Detail vertraut sind, nehmen Sie motiviert an der 2-tätigen Agilitätsschulung teil. Sie realisieren jedoch schnell, dass sich Ihnen eine hochspannende, komplett neue Arbeits- und Denkwelt eröffnet, die Ihren Arbeitsgewohnheiten teilweise entgegensteht. So stellen Sie fest, dass …
- es keinen Teamchef mehr gibt, sondern das Team sich selbstorganisiert.
- es keinen Vorgesetzten mehr gibt, der Ihnen die Aufgaben zuteilt. Sie und das Team machen das selber.
- es keine individuellen Zielvereinbarungen mehr gibt, sondern OKR’s.
- keine individuellen Boni für ausserordentliche Leistungen mehr ausbezahlt werden, sondern nur noch das Team als Ganzes incentiviert wird.
- Sie in einem sehr strukturierten Meetingszyklus arbeiten, der aus Dailies, Weeklies, Reviews und Retrospektiven besteht.
- Ihre Arbeit und so auch Ihre Ergebnisse und Ihre Leistung komplett transparent sind.
- Sie viel direkter als gewohnt für Ihre Arbeit (konstruktiv) kritisiert werden.
- etc.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie sich vor allem in der Anfangsphase punktuell überfordert fühlen. Einerseits, weil Sie schlagartig Ihre Gewohnheiten ändern und andererseits, weil Sie sich in den übrigen 80% ihrer Arbeitszeit wieder an die Regeln der hierarchischen Organisation halten müssen.
Daher sind dezidierte Befähigungsmassnahmen äusserst wichtig, weil sonst die initiale Motivation schnell abfallen sowie die generelle Verunsicherung ansteigen kann. Auch eine thematische Mitnahme der Vorgesetzten ist unabdingbar, vor allem in Zeiten, wo das Tagesgeschäft intensiv ist und die Versuchung steigt, die Digitalisierungsprojektmitarbeitenden wieder aus der Projektarbeit in die Linie zurückzuholen- das würde nicht nur den Mitarbeitenden selbst frustrieren, sondern die ganze Projektarbeit gefährden. Der einzige Weg, diese Probleme zu umgehen, ist switchen zu lernen, d.h. die Mitarbeitenden müssen den agilen Mindset verinnerlichen. Das ist nicht durch in ein paar Weiterbildungskurse erreichbar, sondern nur durch eine aktive Mitarbeit an Digitalisierungsprojekten. Die Mitarbeitenden müssen verstehen, warum welche Methodik, welches Tool, welche Handlungsweise in welchem der zwei Betriebssysteme notwendig und sinnvoll sind.